Barbara Seifen

Wahrheit ist eine kollektive Entscheidung.

Eine geschlossene Form, ein Körper.
15cm breit, 25cm hoch und 2cm stark.
Umhüllt mit braunem Packpapier,
geheftet mit Klebefilmstreifen.

Eine anonyme Form ohne erkennbaren Inhalt.

Enthüllt!
Ein Buch,
eingebunden in blassgelben Leinen,
beschriftet mit eingeprägter, weißer Schrift.

Barbara Seifen
Die Baugeschichte des spätgotischen Kreuzherrenklosters Bentlage
Studien zur Bauforschung Nr. 17
Herausgegeben von der Koldewey-Gesellschaft
1994

Aus dem antiquarischen Buche entweicht der Geruch von Zigarettenrauch und eingedrungener Feuchtigkeit, die die Nutzung und die Aufgabe des Buches dokumentierten. Ein Vorwort, Danksagungen, Einleitungen und Beschreibungen:

Eine romanische Kapelle, zwei Häuser aus Holz und Lehm.
Eine einschiffige Kirche mit Fünf-Achtel-Chor, ausgerichtet zur aufsteigenden Morgensonne im Spiegelbild der Ems. Der Ostflügel, verbunden mit dem vorgelagerten, nach Norden ausgerichteten Kreuzgang der Kirche, dient und bestimmt die Nutzung als Kloster mit der Sakristei, dem Kapitelsaal, dem Dormitorium und den Räumen des Priors und des Prokurators. Am Übergang zum Nordflügel, der Gang zur Latrine über der Ems.
Am lebendigen Wasser verortet, ist das reinigende Wasser still rauschend, zerstörerisch.
Der Nordflügel mit südlich vorgelagertem Kreuzgang, im dortigen Calefactorium eine Feuerstelle zum Wärmen und zur Bereitung der Speisen. Die Vorräte lagern im gewölbten Keller.
Äpfel und Kartoffeln, fermentierte Bohnen, süße Fäule - etherischer Gestank.
Der östlich ausgerichtete Kreuzgang, vorab ohne Westflügel erbaut, in der Abendsonne mit leuchtenden Maßwerkfenstern den Innenhof an vierter Seite schließt. Die vorgelagerten, öffentlichen Räume vollenden die Vision der Kreuzherren, die die Zisterzienser als bauliche Sinnform erschaffen haben.

Ohne erkennbare Inhalte ist jede Form anonym.

Was über Jahre als Vision geschaffen wurde ist die typologische Hülle, die die Lebensgemeinschaft schützend von der Gesellschaft trennt aus der sie schöpft und mit der sie in spiritueller Verbindung steht. In seiner vollendenten Form überdauerte das Kloster Jahre der Nutzung, wurde umgenutzt verfremdet, geachtet erhalten, verachtet zerstört. In jedem Zustand ein Symbol des Zeitwillen, entwickelt aus einer kulturellen Selbstwahrnehmung.

Die Kirche ist verloren. Die übrigen Gebäude und deren inneren und äußeren Spuren sind erkannt und dokumentiert. Die Ausstattung ist in Fragmenten erhalten, aber aus den inhaltlichen Zusammenhängen gerissen. Sie ist nicht mehr in ritueller Symbiose mit dem praktizierenden Gläubigen, sondern vereinzelt arrangiert zu betrachtetem Kulturgut. Die Ausstattung ist nicht mehr Teil der Form, sondern in der Form. Alle Form ist nur noch Hülle eines neuen Rituals einer gegenwärtigen Gesellschaft.

Die Kenntnis der Geschichte schärft unseren Blick, macht uns als Nutzer reicher. Der Inhalt eines Ortes ist seine Geschichte, unser dortiges Handeln schreibt die Geschichte fort. Unsere Entscheidungen in der Gegenwart, werden als Vergangenheit betrachtet in der Zukunft bewerten werden. Seien wir im Verstehen sorgsam und im Handeln umsichtig. Wir müssen die Vergangenheit schätzen und fortschreiben, ohne sie zu kopieren. Orte wie das Kloster Bentlage werden sichtbar durch Menschen wie Barbara Seifen, die sich als Teil des Ganzen empfinden. Nur so wird die alte bauliche Sinnform zu einer neuen wahrhaftigen Typologie transformiert.

Bild ohne Beschreibung

Verfasst am 03.10.2021 im Kloster Bentlage
Christoph Achterkamp